Der Blick wird angezogen, als hänge er am Faden…
Das weiße Fenster ist wie ein Angelhaken für das Auge.
Kennst du das Gefühl, wenn du ein Aquarell betrachtest und dein Blick sofort dorthin wandert, wo die Musik spielt – ins Herz des Bildes?
Genau das ist kein Zufall, sondern gute Planung.
Licht ist in der Malerei weit mehr als nur Helligkeit: Es ist der unsichtbare Dirigent, der dem Auge den Weg weist.
Wer Tonwerte klug einsetzt, schafft Orientierung, Tiefe und Atmosphäre – und so zeigst du in deinen Bildern, was du wirklich zeigen möchtest.
Warum das Auge Führung braucht
Unser Sehsinn liebt Ordnung.
Wer seine Bilder ordentlich Gegenstand für Gegenstand malt, erzeugt oft Verwirrung. Zwar ist alles gut gemalt, doch das Auge vermisst ein Ordnungsmuster für das gesamte Motiv.
Ein Bild mit vielen gleich starken Farben oder Tonwerten wirkt chaotisch –
– das Auge sucht vergeblich nach einem Ruhepunkt. Ohne Kontraste irrt der Blick umher, wie in einer wilden Landschaft ohne Wegweiser.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir als Maler den Blick des Betrachters bewusst lenken.
Das gelingt am besten durch gezielte Lichtführung – und das Werkzeug dazu sind die Tonwerte.
Tonwerte sind Licht: Die stille Macht im Aquarell
Tonwerte sind nichts anderes als die Helligkeit oder Dunkelheit einer Farbe – also wie viel Licht sie reflektiert. Auch im Aquarell, das ja oft für seine leuchtenden Farben bekannt ist, sind Tonwerte der Schlüssel zur Bildwirkung.
Denn es gibt kein Licht ohne Dunkelheit.
Oft ist mein Liebster verwirrt, wenn ich vor scheußlichen Motiven in Begeisterung ausbreche. Bin ich irre? Na ja, vielleicht ein bisschen, aber meine Begeisterung hat fachliche Gründe:
Nicht die Schönheit macht gute Bilder, sondern die Kontraste!
Sortiert man die Tonwerte im Motiv, dann schafft man ein klar verständliches Ordnungsmuster für das Auge.
Typische Wege, mit Tonwerten Orientierung zu schaffen:
• Hell-Dunkel Kontraste im Hauptmotiv – sie ziehen den Blick magisch an.
• Vordergrund dunkler – Hintergrund heller – das gibt Tiefe.
• Mittelgrund als Brücke – vermittelt zwischen beiden Extremen. Kann aber gerade dadurch die Hauptrolle spielen.
• Nicht alles darf gleich dramatisch sein.
Vordergrund, Motiv und Hintergrund, deutlich erkennbar muss es sein!
Es gibt einige sehr hilfreiche gestalterische Prinzipien, mit denen du gezielt Lichtverhältnisse, Tonwerte und Bildtiefe organisieren kannst:
1. Dreiteilung in Vordergrund – Mittelgrund – Hintergrund – das Licht ist der Schlüssel
Diese Staffelung sorgt nicht nur für Tiefe, sondern auch für Spannung. Du kannst sie gezielt mit Licht, Tonwert und Detailgrad gestalten:
• Vordergrund: Dunkel, aber nicht zu aufregend
• Mittelgrund: Mittlere Tonwerte, leuchtende Farben und starke Kontraste.
• Hintergrund: Helle, weiche Töne, kaum Details – schafft Atmosphäre und Raum.
Ein klassisches Beispiel: In diesem Bild (Cannobio am Largo Maggiore) sind die alten Häuser das Thema. Sie haben am meisten Farbe und Kontraste, hier findet sich Weiß, Schwarz und Farbe!
Das weisse Fenster ist der Aufhänger des Bildes
Der Hintergrund, luftig und weich bring Entfernung ins Bild. Der Vordergrund dunkel führt ins Bild und stärkt die Farbe des Hauptmotivs.
Allerdings gibt es noch anderer Gestaltungsprinzipien.
2. Hell auf Dunkel / Dunkel auf Hell
Ein starkes Hell-Dunkel-Spiel im Hauptmotiv lenkt den Blick zuverlässig. Setze dein Motiv in Kontrast zur Umgebung:
• Eine helle Hauswand vor einem dunklen Wald.
• Ein heller Himmel hinter einem dunklen Turm.
In diesem Bild grenzt der schwarze Giebel an den weißen Himmel.
Das erzeugt Fokus – wie ein Bühnenlicht.
3. Weniger Kontrast und Licht = weniger Aufmerksamkeit
Willst du, dass ein Bereich im Bild in den Hintergrund tritt, dann reduziere die Tonwertunterschiede. Bereiche mit weichen Übergängen und ähnlichen Helligkeiten wirken automatisch ruhiger.
Beispiel: Schaue dir das linke Haus an. Es gehört nicht mehr zum Hauptmotiv, es wurde bewusst ohne aufregende Farben und Kontraste gemalt.
Der Hauptdarsteller braucht die Bühne
Die wichtigsten Kontraste gehören dorthin, wo der Betrachter hinschauen soll: ins Hauptmotiv.
Helle Lichter neben dunklen Schatten erzeugen Spannung und machen ein Motiv plastisch.
Wenn du aber überall im Bild starke Hell-Dunkel-Gegensätze verteilst, verliert das Auge die Orientierung – das ist wie ein Theaterstück mit zehn Hauptrollen.
Faustregel für die Augensteuerung durch Licht:
Die größten Tonwertunterschiede gehören ins Zentrum der Handlung.
Das Licht gibt dem Motiv seine Bedeutung. Das sieht man auch hier, das weiße Fenster zieht das Auge magisch an.
Warum der Vordergrund oft dunkler sein darf
Es mag zunächst widersinnig klingen – aber ein dunkler Vordergrund oder dunkle Seiten des Bildes können dein Bild leichter und leuchtender machen. Warum?
1. Rahmung des Motivs: Ein dunkler Vordergrund oder dunkle Bildecken wirken wie eine Vignette – sie rahmen das Bild und lenken den Blick in die Mitte.
2. Luftperspektive: In der Natur wirkt der Hintergrund oft heller, weil Luft und Dunst Licht streuen. Ein dunkler Vordergrund schafft also Tiefe und Atmosphäre.
3. Lichtwirkung steigern: Wenn du den Vordergrund oder die Seiten des Bildes absichtlich etwas abdunkelst, wirken helle Bildteile noch strahlender – das ist optische sexy.
Natürlich sollte der Vordergrund nicht immer dunkel sein – aber wenn du ihn sparsam einsetzt, kann er das Licht im Bild regelrecht zum Leuchten bringen.
Fazit: Licht führt – du entscheidest, wohin
Licht und Tonwert sind die Regisseure deines Bildes. Wenn du sie klug einsetzt, entsteht wie von selbst Ordnung, Tiefe und Atmosphäre. Besonders im Aquarell, wo du mit transparenten Farbschichten arbeitest, ist die Tonwertplanung Gold wert.
Denk beim nächsten Mal daran: Nicht das Motiv allein entscheidet, ob dein Bild wirkt – sondern wie du es ins Licht rückst.
Gib dem Auge eine Bühne, einen Fokus, einen Ruhepunkt, weil der Betrachter dann hinschaut.
Auf meinem Blog Herz-der-Kunst.ch findest du jede Woche neue Tipps rund ums Malen, deshalb vergiss bitte nicht ab und zu eine kleine Spende da zu lassen. Denn solche Angebote brauchen ein Budget, denn nur so können wir interessante Artikel auf die Beine stellen.
Viel Spaß beim Malen – und beim Spielen mit Licht!
Liebe Grüße Tine