Die Struktur ist vielleicht ein etwas ungewöhnlicher Beginn für eine Zeichenschule, dennoch glaube ich er ist perfekt.
Diese Woche lag der erste Schnee bei uns und dann wird es hier schnell ungemütlich. Ungemütlich wird es übrigens auch in Venedig, die angesagte Mode im November ist Gummistiefel oder Plastikbeutel, übrigens auch zum Kostüm.
Leider bin ich mit einem Koch, der gebürtig aus Venedig stammt, befreundet. Das ist gar nicht gut für mich. Wir wollen immer wieder zum Zeichnen nach Venedig fahren, doch dann ist das Wetter schlecht und deshalb führt uns Nonna jedesmal im Polizeigriff ab und füttert uns bis zum lebensbedrohlichen Magendurchbruch. Blöderweise ist Nonna so effektiv, dass ich nun bei dem dritten Besuch noch nichts gesehen habe, außer das Familienrestaurant, bei einem unserer Fluchtversuche ist dieses Bild entstanden.
Tine Klein: San Giacomo dall ´Orio: Venedig, die schönste Tristesse der Welt
Hier zeigt sich das kleine Struktürchen echte Geschichtenerzähler sind, deshalb liegt mir das Thema so am Herzen. Aus diesem Grund fange ich meine Zeichenschule mit Struktur an, denn wer sich auf die Struktur konzentriert, erlernt von Anfang an die Geschichte eines Motivs zu erzählen.
Der Strich und die Struktur
Ihr hab ja sicher schon gemerkt, dass ich mir die Haare raufe, wenn man unter Zeichnen lernen versteht, dass man feste Kästchen und Rahmen um alles zeichnet.
Solche Zeichnungen lassen wenig Raum für Entwicklung, der Rahmen sitzt um das Motiv wie eine Zwangsjacke! Viele Kunstlehrer verstehen dies als die Tradition der klaren Linie, auch viele Animationszeichner benutzen diese Methode, aber aus einem ganz klaren Zwang heraus, den man kann nur digital kolorieren, wenn Linien ganz ordentlich geschlossen sind.
Ich glaube, dass die Methode des klaren, harten Strichs beim Zeichnen viel eher eine Erziehungsmethode ist als eine Kunstrichtung. Kinder sollen zur Ordnung und Sauberkeit angehalten werden, Designer dazu, dass ihre Skizzen automatisch für Druckgrafik und Trickfilm von Computern koloriert werden können.
Wir als Künstler jedoch müssen uns aber fragen: Wie zeige ich das hier am Besten?
Und dafür gibt es eine enorme Menge anderer Möglichkeiten als eine klare harte Linie.
Zeichnen mit Strukturen
Ich zeige euch einmal diese Kirche aus Venedig:
Oma ist eine Naturgewalt die lässt einem nicht mal Zeit für einen Schnappschuss: Urheber: Nelson Pérez [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons
Für mich ist Venedig die Poesie des morbiden Verfalls, bittersüß, hässlich, feucht, feucht kalt und das Herz erwärmend wunderschön.
Schaut euch mal diese Kirche an. Ist dies die angemessene Wiedergabe des Ortes? Wohl kaum.
Negativbeispiel Vorzeichnung mit Tinte
Solche Vorzeichnungen haben unzählige Nachteile, die Linien werden gerade und hart gezogen, jeder Fehler fällt auf, dadurch sehen die Zeichnungen oft trotz Lineal aus wie von Kindern. Auch Farbe wirkt in solchen Gefängnislinien wie ein Fremdkörper. Das Schlimmste ist aber, dass der Zeichner auf der Jagd nach genauen Strichen die Seele des Ortes vergiss!
Eine ganz harte Umrahmung spricht uns einfach nicht aus der Seele, denn sie zeigt gar nichts von dem, was an diesem Ort so bittersüß ist.
Trotzdem machen wir unsere Zeichnungen so, weil wir einmal hören wollen:
Da sitzt ja jeder Strich!
Ausdrucksstärke durch die erzählerische Kraft der Struktur
Die Struktur, die man neben der Linie, erzeugt ist so etwas wie eine Bildsprache für den Ort. Die Kernfrage ist:
Was ist da was mich so fasziniert?
Und dies versuche ich dann mit dem Stift zu zeigen, dadurch erhält die Zeichnung einen Erzähler.
Schauen wir noch mal ins Foto, was macht diesen Ort aus?
Besonders gut eignen sich Strukturen um kleine Details zu Zeigen:
Bröckelnder Putz, Bauschäden und sichtbarer Stein, Pflaster und fallende Blätter, dass ist das erzählerische Spielfeld der Struktur.
Schon besser? Vielleicht auch interessanter? Na klar, hier erzählen die Strukturen eine Geschichte von fallendem Laub, bröckelndem Putz und selbst die Fliesen auf dem Pflaster sieht der Betrachter.
Strukturen machen eine Zeichnung persönlicher
Wichtig ist bei deiner persönlichen Linie, dass man nicht nur etwas vom Ort sieht, sondern auch von Dir.
Jetzt fragt sich natürlich mal wieder der eine oder andere Realist, was das zum Teufel soll das.
Die Frage ist berechtigt, wenn du ein Foto machen willst, dann mach ein Foto, beim Zeichnen aber ist dein Stift ein Erzähler.
Kein Mensch hört ein Hörbuch mit einer scheußlichen Stimme:
Hinterlasse mit deinem Stift deine wundervolle, warme Erzählstimme.
Kleckern statt Klotzen
Alles zu zeichnen würde dich wahnsinnig machen. Ich kenne einen Designer aus Barcelona, der hockt abends vor dem Fernsehen und malt wie besessen Backsteine, deshalb nennt ihn seine Frau liebevoll mein kleiner Autist.
Man kann das machen, wenn man einen kleinen Hang zum Zwanghaften hat. 😆
Bei Strukturen muss man sich immer eines merken:
Viel hilft nicht viel
Strukturen sind dazu da zu zeigen, dass etwas da ist, dafür braucht man nicht jedes Detail zu zeichnen. Zeichne so wie die Sehgewohnheiten des Menschen sind, wir schauen schnell hin, sehen Backsteine, schauen uns aber nie alle Backsteine an.
Zu wissen wie die Sehgewohnheiten eines Menschen sind, hilft enorm, dann weiß man, wir dürfen Dinge in Zeichnungen weglassen.
Ich wünsche euch ein tolles Wochenende.
Tine aus dem Herz-der-Kunst
Wer es nicht glaubt scheußliches Wetter in Venedig