Sehen lernen ist Malen lernen!

Liebe Schülerinnen und Schüler,

durch einen Zusatzkurs sind diesmal ganz unerwartet noch ein paar Plätze frei! Wer also Lust hat, noch mitzumachen, sollte sich bald anmelden – das kommt wirklich selten vor.

Der Kurs findet in Aarberg statt, einem zauberhaften kleinen Ort, umgeben von idyllischen Naturschutzgebieten – ein perfekter Platz, um in Ruhe zu malen, die Natur zu genießen und neue Inspiration zu finden.

Ich freue mich sehr auf diese besondere Gelegenheit mit euch!

https://www.boesner.ch/niederlassungen/veranstaltungen/licht-und-schatten-19369

Basel Herbst an der Promenade….

 

Sehen lernen: Wenn das Gehirn sieht – und nicht das Auge

Vielleicht kennst du das auch: Du bist ganz versunken in dein Motiv, konzentrierst dich auf das Licht auf dem Dach der Kirche, die Spiegelung im Wasser, die vibrierende Kante eines Schattens – und der Rest?

Verschwindet einfach.

Mist!!! Schon wieder was vergessen!

Muss ich konzentrierter sehen lernen?

Wir glauben, das Auge sei eine Kamera, die alles gleichzeitig erfasst.


Aber in Wahrheit ist es das Gehirn, das uns die Welt „zusammenbaut“ – wie ein Puzzle aus lauter kleinen Wahrnehmungsfragmenten.

Nur ein winziger Bereich deines Sehens – die sogenannte Fovea – liefert scharfe Informationen. Sie ist kaum größer als ein Daumennagel auf Armlänge.

Krass, oder? Unser Gehirn baut also das Motiv aus daumennagelgroßen Stückchen zusammen! Da kann man nur staunen, oder?

Alles drumherum ist unscharf, wird aber vom Gehirn ergänzt. Beim Malen, wenn du dich auf einen bestimmten Punkt konzentrierst, arbeitet dein Gehirn mit Hochdruck – aber eben nur dort.

Was daneben liegt, fällt durch das Raster.

Das heißt, ich muss nicht neu sehen lernen – ich vergesse beim Malen so viel, weil ich konzentriert bin!

Das selektive Sehen – warum Sehen lernen auch Fokussieren lernen ist

Unser Gehirn filtert ständig. Es entscheidet, was wichtig ist und was nicht.

Ohne diesen Filter würden wir in der Reizflut untergehen.

Beim Malen funktioniert dieser Filter allerdings anders:

Er folgt der künstlerischen Aufmerksamkeit, nicht der Logik.

Das heißt: Wenn ich immer wieder die Mauer an der Uferkante von Basel fast vergesse, sie kürze und die Ufermauer winzig im Vergleich zu ihrer echten Dimension male –

– dann liegt das daran, dass mein künstlerisches Interesse woanders liegt!

Wasser zu malen ist schwer, macht mir aber enorme Freude.
Das Schattenspiel auf dem Dach des Münsters in Basel fasziniert mich.
Auch die Bäume liebe ich … aber die Mauer? Der graue Stein!
Er stellt mir keine Herausforderung – und deshalb filtert mein Gehirn ihn frech raus!

Das ist kein Fehler – das ist Neurobiologie in Aktion.

Unser visuelles System wurde dafür gemacht, uns auf das zu konzentrieren, was Bedeutung hat.


Und Bedeutung ist immer emotional: das, was uns anzieht, was uns berührt oder was uns gerade eine malerische Lösung abverlangt.

Vergesse ich also etwas im Motiv, dann merkst du, dass es mich nicht berührt hat!

Mein Herz hat nicht daran geklebt!

Ich muss nicht neu sehen lernen – das Bild zeigt dir ganz genau, wo ich gut gesehen habe, weil mein Herz und meine Augen darauf zugeflogen sind.

Der Flow als Tunnel – Sehen lernen ist Weglassen lernen

Wenn wir im Flow sind, verändert sich die Art, wie unser Gehirn arbeitet.
Im Flow schaltet sich der präfrontale Cortex teilweise herunter – das ist der Bereich, der normalerweise für Planung, Selbstkritik und Ordnung zuständig ist.

Deswegen macht mich Malen so zufrieden und glücklich.

Das erklärt, warum sich das Malen manchmal „wie von selbst“ vollzieht, aber auch, warum wir dabei ganze Dinge „vergessen“.

Den Flow würde ich nicht für das Sehen lernen abgeben wollen!

Denn im Flow bin ich ganz ich – ich bin mit der Welt verbunden. Das ist ein wunderbares Gefühl.

Ich könnte sagen: Mein Auge ist verschmolzen mit mir und der Welt!

Im Flow sieht mein Kopf, was mir wichtig ist, und …

das ist wunderbar – nur nicht immer vollständig.

Warum wir bestimmte Teile nicht sehen – und was das mit Sehen lernen zu tun hat

Unser Sehen ist kein gleichmäßiger Scan, sondern eine Kette von kleinen, schnellen Augenbewegungen – sogenannten Sakkaden.

Zwischen diesen Momenten sind wir „blind“.

Unser Gehirn setzt die Welt zwischen diesen Blicksprüngen zusammen. Was dabei keine emotionale Relevanz hat oder nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit liegt, wird einfach ausgelassen.


Deshalb „sehen“ wir es nicht, obwohl es physisch da ist.

Merkwürdigerweise habe ich das oft beim Einkaufen – ich finde etwas nicht, obwohl es direkt vor meiner Nase steht!


Aber auch beim Malen vergesse ich Teile der Welt.

Beim Malen im Freien ist dieser Effekt noch stärker.
Draußen ändern sich Licht, Wind, Geräusche, Menschen ziehen vorbei – das Gehirn sortiert gnadenlos.
Es sagt: „Das ist wichtig, das nicht.“

Und trotz allem Bestreben nach dem Sehen lernen ist dies doch etwas sehr Schönes!

Frei nach dem Motto:

Vergiss doch den ganzen Scheiß!

Und genau deshalb entsteht dieses Paradoxon:

Die Bereiche, auf die du dich konzentrierst, werden intensiv und stark – der Rest verschwindet.

Das heißt: Mit jedem Bild zeigst du, wer du wirklich bist!

Wie man Sehen lernen kann, ohne sich selbst zu verleugnen

Man kann diesen Mechanismus trainieren – nicht abschalten, aber erweitern.
Es hilft, das Motiv vor dem Malen mit den Augen „abzuwandern“, wie ein Spaziergänger durch ein Gelände.

Nicht analysierend, sondern beobachtend.

Statt sofort loszumalen, kurz das Blickfeld schweifen lassen:

Man kann sich bewusst zwingen, auch das Unscheinbare zu bemerken – die Zwischenräume, die Übergänge, die Nebensächlichkeiten.

Aber man kann es mit Ruhe angehen.

Trotzdem ärgere ich mich oft, wenn ich etwas Wichtiges vergessen habe!

Doch ich stelle die Frage in den Raum:

Was ist wichtiger – das genaue Sehen oder die Art, die Welt zu sehen, wie ein Künstler sie sieht?

Und so werde ich ein Leben lang an der Balance zwischen Sehen lernen und die Welt sehen, wie sie mich interessiert, arbeiten.

Gott sei Dank kommt ja nicht die Malpolizei und stellt mich zur Rede, weil ich mal wieder die Uferwand des Münsters eingerissen habe.

Herzliche Grüße von Tine,
die immer noch nicht übers Wasser laufen kann –
und auch nicht richtig sehen kann und will.

Herzlichen Dank an alle, die gespendet haben!

CHF

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Weiterlesen zum Thema:

https://blog.herz-der-kunst.ch/jeder-maler-muss-3-mal-sehen-lernen/