Malerei, das Spiel mit harten und weichen Kanten

Die Malerei und die Freude am Sehen

Hallo, ich freu mich, dass du da bist. Wie schön, dass du diesen Artikel lesen möchtest, denn es wird sich lohnen. Mache es dir gemütlich, ich sitze hier mit einem dicken Pott Kaffee bei guter Musik zwischen meinen Pflanzen und möchte mit dir über das Sehen plaudern.
 
Malerei versucht, Dinge sichtbar zu machen.
 
Das gilt für Visuelles, aber genauso gut für Gefühle. Damit man diese Dinge sichtbar machen kann, braucht man in der Malerei Techniken.
 
Die harte Kante hat eine große Macht, denn sie ist eine Grenzlinie, deshalb macht sie Dinge deutlich und sie verstärkt Kontraste.  Das gilt für Visuelles, aber genauso gut für Gefühle. 
Die harte Kante begrenzt, umrahmt oder sendet ein Stop-Signal. Insbesondere schärft sie den Blick.
 
Dieses Spiel beruht darauf, dass unser Auge zwei verschiedene Rezeptoren hat. Die einen Sinneszellen sind für Hell und Dunkel da, diese nennt man Stäbchen. Die Zapfen hingegen überprüfen die Wellenlänge. Zapfen wie Stäbchen sind keine absolut genauen Messinstrumente, die nach einer Skala arbeiten, nein, der Mensch ist keine Maschine.

Zapfen und Stäbchen

Zapfen wie Stäbchen arbeiten nach einer Art Vergleichsmaßstab. Um dir das für die Malerei bewusst zu machen, bedenke also,  dass unser Auge Kontraste braucht.
 
Kontrast und Kante sind zwei Dinge, die sich verstärken, weil sie den Vergleich vereinfachen.
 
Am stärksten schaut das Auge hin, wenn ich starke Abwechslung von Kontrasten habe. Hell und dunkel und  die verschiedenen farbigen Kontraste sehen das Auge an.
 
Bei starken Kontrasten kann das Auge einfach nicht anders, dann benimmt sich das Auge wie meine Katze Gini, wenn wir ein Hühnchen vom Grillwagen geholt haben. Sie rastet völlig aus, sie hängt an der Einkaufstüte, wenn man sie dann genervt aus der Küche aussperrt, rast sie gegen die Glastür, alles egal, selbst mit dem Kopf durch die Wand.
 
Möchtest du also, dass deine Betrachter sabbernd und hemmungslos auf deine Bilder gucken, brauchst du harte Kanten. Du hast sicher längst begriffen, dass die Kombination die Arbeit von Zapfen und Stäbchen erheblich erleichtert.
Die Kante ist als so etwas wie ein Geschmacksverstärker für das Auge.
 
Farben gehen nicht sanft ineinander über, sondern sie stehen sich scharf abgegrenzt gegenüber.

Die harte Kante

Schau mal hier:

Wo guckst du hin? Auf die Kirche und auf das Riesenrad?

Betrachte dir mal die Kanten an der Kirche. Scharfe Kante plus großer Kontrast und schon hab ich dein Auge im Griff, wie meine Katze mit dem Hühnchen-Duft.

Dies siehst du in unteren Bild, durch die gestochen scharfen Kanten, an denen sich Licht und Farbkontraste treffen, werden die Dächer sehr gut sichtbar. Man kann die Perspektive gut wahrnehmen.  Das Auge klebt an den Dächern wie meine Katze an der Küchentür.

 

Basel urban sketching. Die Malerei macht Dinge sichtbar. In diesem Tutorial verrät Tine, wie man in der Malerei das Auge mit harten und weichen Kanten steuern kann.

Schauen wir mal genauer hin. Ich möchte, dass der Betrachter die wunderbaren Dächer der uralten Häuser wahrnimmt. Achte einmal auf das große orange Dach im Kasten. Der Kontrast zwischen dem Schatten und dem leuchtenden Orange des Daches ist sehr hoch, deswegen lechzt das Auge danach. Verstärkt wird der Effekt noch durch die Streifen auf dem Dach. Mir waren die Dächer wichtig und deshalb mache ich den Kontrast im unteren Bereich der Hauswand etwas weicher. So steuere ich, dass das Auge wirklich auf dem Dach bleibt.

Die gute Nachricht ist, harte Kanten kann man sehr einfach erzeugen. Wenn feuchte Farbe trocknet, wirken in der Farbe Adhäsionskräfte. Auf trockenem Papier entstehen automatisch harte Kanten, mit Stiften, Acryl, Gouache oder Ölfarbe ist dies noch einfacher, denn man muss einfach nur Farben aneinanderstoßen lassen.

Do´s und Don´ts bei der harten Kante

Do´s:

• Farbkontraste aneinander stoßen lassen

• Hell und Dunkel aufeinander stoßen lassen

• scharfe, saubere Linien

Harte Kante, Don ´t 1:

• verboten ist “Wischi-Waschi“!

Was bedeutet das? Viele von uns haben Angst vor harten Kontrasten und dunklen Farben. Deshalb verwuscheln sie gerne eine Kante, damit sie etwas weicher wirkt, genau das verdirbt die Bilder. Harte Kante heißt auch wirklich harte Kante.

Gib dir die Kante!

Im ersten Moment wirst du dich erschrecken, denn der Kontrast sieht plötzlich durch die Kante unglaublich stark aus. Jetzt ausatmen und aushalten!

Malerei heißt steuern

Relativ schnell wirst du feststellen, dass Farben durch harte Kanten völlig anders aussehen. Eine leuchtende Farbe wird durch eine harte, dunkle Kante strahlend.
 
Warum passiert dies? Das Auge erhält nun eine ganz klare Aussage. Deswegen nimmt es Farben völlig anders wahr.
 
Du wirst feststellen, dass das Arbeiten mit harten Kanten es oft notwendig macht, die Farbgebung eines Bildes noch einmal zu überarbeiten. Denn einige Farben werden plötzlich grell, andere Farben wirken plötzlich blass.

In diesem Moment hast du sozusagen den Regler gefunden, mit dem du das Auge steuerst.

Don´t 2:

Ungeplante harte Kanten. Was passiert? Ich schleiche mich aus der Küche und die Katze folgt mir sofort, sie klebt verzweifelt an meinem Bein. Das war nicht geplant!

Malerei heißt: Das Auge steuern.

Erzeugst du ungeplant harte Kanten, wird das Auge sofort aus dem Motiv gerissen.

Dies passiert leider viel einfacher als gedacht. Einer der häufigsten Fehler ist, dass man am Rand des Motivs schlampig aufhört, hier entstehen jetzt völlig ungeplant harte Kanten. Das Auge guckt jetzt nicht mehr aufs Motiv, sondern auf den Rand des Bildes. Das Gleiche gilt für Motivanteile, die nicht wirklich zum Kerninhalt des Bildes gehören. Malst du einen orangen Mülleimer auf  trockenes, weißes Papier, wird jeder nur noch auf den Mülleimer gucken, denn er strahlt so schön.

Hat ein Bild zu viele harte Kanten, wirkt es unruhig und aggressiv!

In der Malerei hat die weiche Kante Narrenfreiheit

Wir stellen also fest, wenn man mit harten Kanten arbeitet, dann gehört es zur Malerei, dass man ebenso mit weichen Kanten arbeitet. Bei weichen Kanten ist alles erlaubt, was bei den harten Kanten nicht gut ist.

Do´s:

• zarte Farbübergänge und zarte Lichtverläufe in Nass- in-Nass-Techniken

• Ton-in-Ton-Malerei

Aquarell von Basel dem Münster und dem Riesenrad, Die Malerei macht Dinge sichtbar. In diesem Tutorial verrät Tine, wie man in der Malerei das Auge mit harten und weichen Kanten steuern kann.

Schau mal, wie schlabberig die Farbübergänge an der unteren Kante des Bildes sind. Hier laufen die Farben sehr weich ineinander. Schau dir mal das zweite Fenster links unten an.

Total verschlabbert! Wieso klappen solche chaotischen Farbaufträge in der Malerei? Die Antwort ist einfach:  Durch meine harten Kanten habe ich den Blick in die Ferne gezogen. Die weiche Kante im Vordergrund entspricht dem normalen Sehverhalten des Menschen. Wenn ich dein Augenmerk nicht darauf richte, dann schaut dein Auge nur so im Vorbeigehen mal kurz drüber.

Hausaufgaben:

Mach’s dir gemütlich! Welches Katz-und-Maus-Spiel spielen die guten Maler mit dem Auge? Schau dir mal deine Lieblingsmaler in den sozialen Netzwerken an, was treiben sie mit dem Auge?

Die Technik ist einfach, dennoch wirst du Zeit brauchen. Denn bei den meisten Menschen entstehen harte und weiche Kanten im Bild eher zufällig. Das wird sich bei dir langsam ändern.

Ich wünsche dir aus Basel ein wunderbares Wochenende.

Liebe Grüße

Tine

Diese Woche habe ich so liebevolle Leserbriefe bekommen. Ich selber bin eine Risikogruppe und habe deswegen im Moment nicht viele Kontakte. So liebe Briefe helfen mir sehr, dann weiß ich ganz genau, dass ich das Richtige tue. Ich finde es wundervoll, dass ich euch solche Freude machen kann.




Weiterlesen bei Tine:https://blog.herz-der-kunst.ch/das-kleine-geheimnis-der-farbe/https://blog.herz-der-kunst.ch/das-kleine-geheimnis-der-farbe/

 

Über die Macht der harten Kante:

Weil die harte Kante so aussagekräftig ist, gibt es sogar einen gesamten Kunststil der nur auf harte Kanten aufbaut. Egal was du machst du solltest auf jeden Fall einmal darüber nachdenken wie wichtig dieses Steuerungsinstrument ist.

http://www.kunst-malerei.info/hard-edge.html#.X7Zcu81KhaQ

 

 

 

 

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