Meine Realität -Deine Realität
Blick und Realität sind zwei völlig unterschiedliche Dinge.
Das eigene Baby ist immer das Süßeste, meine Katze ist auch nicht fett sondern kuschelweich, für meinen Ehemann bin ich die schönste Frau der Welt und meine kleinen Röllchen sind praktische Liebesgriffe.
So muss das sein, wer glücklich sein will, der muss seine Glückshormone genießen. Bei einer polizeilichen Untersuchung, würde man allerdings schon fragen ob die entsprechende Person auch wirklich zurechnungsfähig ist. Die Aussage von Zeugen ist also zweifelhaft.
Aber so funktioniert Liebe nun einmal und Sehen auch.
Was man daraus fürs Malen lernen kann, ist das Menschen völlig selektiv sehen.
Wenn ich die Aktzeichnungen meines Atelier-Kollegen sehe, hihi ***Dann weiß sich ganz genau worauf er fixiert ist!
Das ist eigentlich das Geheime das Rezept jeder guten Skizze, Zeichnung und Malerei, wer seine kleinen Fixierungen zeigt, ist auf der Siegerseite, denn wer zeigt was er liebt, der begeistert auch Andere.
Der Blick ist selektiv
Es gibt ein kleines Café in Malaga, da treffen sich gerne einige Zeichner, es liegt ein wenig abseits des Touristentrubels und ist irgendwie völlig normal. Hier ist nicht jedes Haus ein prächtiger Altbau, sondern alles ist wild gemixt. Ich liebe die Realität eines Landes.Trotz Betonklotz, ich bin gerne hier, genauso wie die Einheimischen. Wenn ich allerdings auf dem Platz sitze, dann nehme vieles nicht wahr. Ich sehe die alten Häuser mit ihren prachtvollen Fenstern, freue mich über mein Getränk und die vollen Mülleimer sehe ich nicht.
Wenn ich abends im Bett liege, dann erinnere ich mich nur noch an die tollen Fenster des Hauses, aber nicht an das Altpapier vom Haus.
Das ist der Unterschied von einem Optimisten zu einem Pessimisten. Ein Pessimist würde an den Siebzigerjahre-Block denken, den vollen Mülleimer, die Müllabfuhr und die Durchgangsstraße.
Wir sehen, was wir sehen wollen.
Fotoapparate sind Berufspessimisten
Wenn man dann im Nachhinein das Foto betrachtet, dann zweifelt man! Aber das ist der Unterschied. Hier schaue ich von der Straße auf den Platz, aber auf dem Platz mit Freunden fühlt sich die Realität anders an.
Wenn man sich eins ganz intensiv für die eigenen Kunstwerke merken sollte, dann ist es das man immer seinen eigenen Blick zeigt.
Kunst ist gut, wenn sie verräterisch ist.
Pures abmalen ist völlig in Ordnung, wenn man dokumentarisch arbeitet oder aber das Zeichnen als eine Art Yoga betrachtet.
Aber in der Realität des Fotos befinden sich viele Dinge, die es in meiner Realität gar nicht gibt, weil wir sie nicht sehen oder nicht wahrnehmen.
Wenn man einen ganz Ort abbildet, dann zeigt das mitunter überhaupt nicht das Lebensgefühl, welches die Menschen haben, die den Ort bevölkern. Es ist also sehr zweifelhaft, welche der beiden Zeichenmethoden wahrhaftiger ist.
Ich als Tourist, nehme einen Ort immer völlig anders war, als der Mensch der darin schon sehr lange lebt.
Zugegebenermaßen habe ich persönlich sehr oft die rosarote Brille auf, aber das ist eben mein Blick!
Was sehe ich?
Als Stadtplanerin habe ich mal eine Studie über Orientierungspunkte gemacht und stellte fest, dass bestimmte Häuser einer Straße von allen wahrgenommen werden, andere Häuser sind nahezu unsichtbar.
Schönes, Schräges und Scheußliches wird erinnert!
Dies ist ziemlich aufschlussreich für Kunstwerke, wenn man mal über die Art Basel schlendert, wird plötzlich ganz klar warum man hier nicht nur Schönes sieht, sondern auch jede Menge schrägen und scheußlichen Kram sieht.
Eine der ganz wichtigen Entwurfstechniken ist sich zu fragen was man tatsächlich sieht.
Es ist sehr wichtig, dass man sich selbst klar macht, dass man im normalen Sehen nicht sieht wie ein Fotoapparat. Wir blicken nicht nur auf Dinge, wir blicken auch weg. Wenn man es schafft dies auf das Entwerfen zu übertragen, dann entstehen plötzlich ganz andere und sehr viel persönlichere Bildkonzepte.
Um den persönlichen Blick umzusetzen, muss man lernen bestimmte Dinge in der Realität auszublenden. Weglassen ist nicht die einzige Möglichkeit, Andeuten und Betonen helfen den eigenen Blick zu zeigen.
In meiner ersten Skizze habe ich den Betonklotz völlig ausgeblendet. Ich lasse ihn nicht bewusst weg, ich sehe ihn nicht. Unter meinem Sonnenschirm konzentriere ich mich auf die schönen Dinge des Lebens, es reicht wenn ich weiß wann zu Hause die Müllabfuhr kommt.
Zum normalen Sehen zurückkehren
Eine der großen Vorteile des Malens ist, dass man wirklich sehen lernt und zwar exakt. Die viel größere Herausforderung ist es jedoch, wieder zu einem normalen Sehen zurückzukehren. Jemand der alles sieht produziert Künstliches, vielleicht kennt ihr auch einen Menschen der versucht alles völlig korrekt zu machen. Diese Personen werden gerne zu Witzfiguren, denn je mehr sie sich bemühen alles richtig zu machen, desto unmöglicher wird dies.
Ein ganz ähnlicher Effekt passiert mit Bildern in denen man versucht möglichst korrekt zu sein, sie wirken steif und unnatürlich, denn in der Realität sieht niemand so korrekt.
Traut euch euch, ein Motiv aus eurem ganz eigenen und völlig persönlichen Blick zu skizzieren. Ihr werdet schnell feststellen, dass sich ganz andere Bildkonzepte ergeben, Blicke sind nicht stetig, sie wandern über das Motiv. Eure Skizzen werden sich dann vielleicht aus den normalen Formaten herauslösen, nicht mehr rechteckig sein. Vielleicht werden eure Bilder am Anfang auch wesentlich chaotischer, denn die eigene Wahrnehmung ist bei weitem nicht ordentlich oder strukturiert.
Was dabei herauskommt, liegt natürlich an der Persönlichkeit die malt, es gibt keine festen Regeln. Am Besten ist es wenn man bei sich ist, die Welt ist nicht bei jedem so rosarot wie bei mir.
Mach dir klar dass es keine Regeln gibt! Auch Scheußliches und Schräges kann super sein.
Meine These ist, das es völlig unnatürlich ist alles zu sehen, ich zeige die Dinge auf die ich mich konzentriere, zeige wohin mein Blick schweift. Es ist völlig natürlich nicht das zu zeigen was man übersehen hat und noch natürlicher ist es Dinge nicht zu zeigen die man ignoriert. Ohne ein bisschen Ignoranz wäre die Liebe furchtbar, auch die Liebe zur Kunst.
Ganz herzliche Grüße
Tine
Mehr zum Blickwinkel des Künstlers gibt es hier