Die Malerei und die Freude am Sehen
Malerei versucht, Dinge sichtbar zu machen.
Die harte Kante begrenzt, umrahmt oder sendet ein Stop-Signal. Insbesondere schärft sie den Blick.
Zapfen und Stäbchen
Kontrast und Kante sind zwei Dinge, die sich verstärken, weil sie den Vergleich vereinfachen.
Die Kante ist als so etwas wie ein Geschmacksverstärker für das Auge.
Die harte Kante
Schau mal hier:
Wo guckst du hin? Auf die Kirche und auf das Riesenrad?
Betrachte dir mal die Kanten an der Kirche. Scharfe Kante plus großer Kontrast und schon hab ich dein Auge im Griff, wie meine Katze mit dem Hühnchen-Duft.
Dies siehst du in unteren Bild, durch die gestochen scharfen Kanten, an denen sich Licht und Farbkontraste treffen, werden die Dächer sehr gut sichtbar. Man kann die Perspektive gut wahrnehmen. Das Auge klebt an den Dächern wie meine Katze an der Küchentür.
Schauen wir mal genauer hin. Ich möchte, dass der Betrachter die wunderbaren Dächer der uralten Häuser wahrnimmt. Achte einmal auf das große orange Dach im Kasten. Der Kontrast zwischen dem Schatten und dem leuchtenden Orange des Daches ist sehr hoch, deswegen lechzt das Auge danach. Verstärkt wird der Effekt noch durch die Streifen auf dem Dach. Mir waren die Dächer wichtig und deshalb mache ich den Kontrast im unteren Bereich der Hauswand etwas weicher. So steuere ich, dass das Auge wirklich auf dem Dach bleibt.
Die gute Nachricht ist, harte Kanten kann man sehr einfach erzeugen. Wenn feuchte Farbe trocknet, wirken in der Farbe Adhäsionskräfte. Auf trockenem Papier entstehen automatisch harte Kanten, mit Stiften, Acryl, Gouache oder Ölfarbe ist dies noch einfacher, denn man muss einfach nur Farben aneinanderstoßen lassen.
Do´s und Don´ts bei der harten Kante
Do´s:
• Farbkontraste aneinander stoßen lassen
• Hell und Dunkel aufeinander stoßen lassen
• scharfe, saubere Linien
Harte Kante, Don ´t 1:
• verboten ist “Wischi-Waschi“!
Was bedeutet das? Viele von uns haben Angst vor harten Kontrasten und dunklen Farben. Deshalb verwuscheln sie gerne eine Kante, damit sie etwas weicher wirkt, genau das verdirbt die Bilder. Harte Kante heißt auch wirklich harte Kante.
Gib dir die Kante!
Im ersten Moment wirst du dich erschrecken, denn der Kontrast sieht plötzlich durch die Kante unglaublich stark aus. Jetzt ausatmen und aushalten!
Malerei heißt steuern
In diesem Moment hast du sozusagen den Regler gefunden, mit dem du das Auge steuerst.
Don´t 2:
Ungeplante harte Kanten. Was passiert? Ich schleiche mich aus der Küche und die Katze folgt mir sofort, sie klebt verzweifelt an meinem Bein. Das war nicht geplant!
Malerei heißt: Das Auge steuern.
Erzeugst du ungeplant harte Kanten, wird das Auge sofort aus dem Motiv gerissen.
Dies passiert leider viel einfacher als gedacht. Einer der häufigsten Fehler ist, dass man am Rand des Motivs schlampig aufhört, hier entstehen jetzt völlig ungeplant harte Kanten. Das Auge guckt jetzt nicht mehr aufs Motiv, sondern auf den Rand des Bildes. Das Gleiche gilt für Motivanteile, die nicht wirklich zum Kerninhalt des Bildes gehören. Malst du einen orangen Mülleimer auf trockenes, weißes Papier, wird jeder nur noch auf den Mülleimer gucken, denn er strahlt so schön.
Hat ein Bild zu viele harte Kanten, wirkt es unruhig und aggressiv!
In der Malerei hat die weiche Kante Narrenfreiheit
Wir stellen also fest, wenn man mit harten Kanten arbeitet, dann gehört es zur Malerei, dass man ebenso mit weichen Kanten arbeitet. Bei weichen Kanten ist alles erlaubt, was bei den harten Kanten nicht gut ist.
Do´s:
• zarte Farbübergänge und zarte Lichtverläufe in Nass- in-Nass-Techniken
• Ton-in-Ton-Malerei
Schau mal, wie schlabberig die Farbübergänge an der unteren Kante des Bildes sind. Hier laufen die Farben sehr weich ineinander. Schau dir mal das zweite Fenster links unten an.
Total verschlabbert! Wieso klappen solche chaotischen Farbaufträge in der Malerei? Die Antwort ist einfach: Durch meine harten Kanten habe ich den Blick in die Ferne gezogen. Die weiche Kante im Vordergrund entspricht dem normalen Sehverhalten des Menschen. Wenn ich dein Augenmerk nicht darauf richte, dann schaut dein Auge nur so im Vorbeigehen mal kurz drüber.
Hausaufgaben:
Mach’s dir gemütlich! Welches Katz-und-Maus-Spiel spielen die guten Maler mit dem Auge? Schau dir mal deine Lieblingsmaler in den sozialen Netzwerken an, was treiben sie mit dem Auge?
Die Technik ist einfach, dennoch wirst du Zeit brauchen. Denn bei den meisten Menschen entstehen harte und weiche Kanten im Bild eher zufällig. Das wird sich bei dir langsam ändern.
Ich wünsche dir aus Basel ein wunderbares Wochenende.
Liebe Grüße
Tine
Diese Woche habe ich so liebevolle Leserbriefe bekommen. Ich selber bin eine Risikogruppe und habe deswegen im Moment nicht viele Kontakte. So liebe Briefe helfen mir sehr, dann weiß ich ganz genau, dass ich das Richtige tue. Ich finde es wundervoll, dass ich euch solche Freude machen kann.
Über die Macht der harten Kante:
Weil die harte Kante so aussagekräftig ist, gibt es sogar einen gesamten Kunststil der nur auf harte Kanten aufbaut. Egal was du machst du solltest auf jeden Fall einmal darüber nachdenken wie wichtig dieses Steuerungsinstrument ist.
http://www.kunst-malerei.info/hard-edge.html#.X7Zcu81KhaQ